21. November 2021, 14:00
Lesezeit: ca. 4 Min

Digitalisierung out of hell

Vor 10 Jahren erblickte das Buzzword und Digitalisierungsprojekt “Industrie 4.0” das Licht der Welt mit nichts weniger im Sinn als der Absicht, eine vierte industrielle Revolution loszutreten.1 Revolution als Begriff und Bild ist natürlich gaga. Wer auch nur einen Hauch an Ahnung hat weiß, Digitalisierung gleicht eher einem Marathon mit vielen Zwischenetappen und fällt nicht von heute auf morgen vom Management verordnet auf ein Unternehmen.

Gegen die Ziele Vernetzung, Informationstransparenz, Technische Assistenz und Dezentralisierung ist dennoch nichts auszusetzen. Letzteres Ziel begrüße ich sogar ausdrücklich und möchte die Liste noch um den Punkt “digitale Souveränität”2 ergänzen.

Wenn am Ende des Tages außer Buzzwords nur zentralisierte, digitale Totalausfälle übrig bleiben und knapp 10% der Unternehmen nach Umfrage von CapGemini mit Ihren Industrie 4.0 Projekten erfolgreich sind,3 wage ich die Sinnfrage zu stellen: Liegt es an der Strategie, der Umsetzung, den Menschen oder von allem etwas?

Zwei Beispiele aus der Praxis zum Nachdenken, natürlich subjektiv und ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit:

Industrie (NT) 4.0

Vor zwei Wochen habe ich im Zuge einer Einführung eines ISMS4 den ältesten Windows-Rechner im Inventar eines mittelständischen Unternehmens identifiziert. Mit seinen 384 MB Arbeitsspeicher steuert und visualisiert es die Abläufe zuverlässig und ist Teil einer größeren Fertigungsstraße.

Die Anlage als Ganzes ist technisch intakt, maximal effizient und hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht nur bewährt sondern auch die typischen Kinderkrankheiten hinter sich gelassen. Für das Fachpersonal der werkseigenen Instandhaltung gibt es kaum etwas, was nicht in kürzester Zeit repariert werden könnte. Alle Bauteile sind normiert, einfach zu erreichen und die Ersatzteillage akzeptabel.

Foto Industrieanlage mit Windows NT4 im Jahr 2021

Sie ist in Ihren besten Jahren wenn das vergammelte Windows NT4 Workstation5 und die Closed-Source Software zur Steuerung nicht wären. Wie ein dunkler Schatten legen sich diese über die begehrten Sensorwerte und der Kommunikation mit einer ERP und Warenwirtschaft. Einer Blackbox gleich, nicht wartbar, nicht erweiterbar und dank proprietärer Programmierung und Technologien nicht ohne weiteres auf zeitgemäßere Technik portierbar.

Ein schönes Beispiel wie Closed-Source Software Digitalisierung und Fortschritt behindert und Komplexität und Kosten an anderer Stelle steigen lässt.

Die Idee vom “autonomen” Fahren

Sprung rüber in die Automobilbranche, die ohne Zweifel mittendrin im Umbruch steckt. Große Hersteller boxen die verpennte Elektrifizierung und Digitalisierung durch. Die Ergebnisse lassen zumindest aus Endkundenperspektive zu wünschen übrig. Unfertige, überteuerte und selten zu Ende gedachte Lösungen schaffen zumindest bei mir kein Vertrauen.

So begegnete mir bei einer Probefahrt vor 2 Jahren mit einem elektrischen Volkswagen noch überall ein “Zündschlüssel” im Display und Betriebshandbuch. Denke ich an die automobile Volkswagen-Cloud mit Azure6, überfällt mich unweigerlich ein Brechreiz und ich kann nur “Nein, Danke” sagen. Externalisiert ein globaler Konzern seine Digitalisierung, ist das für mich ein verzweifeltes Schwenken mit der weißen Fahne.

Wenn am Ende des Tages Autokäufer aufgrund eines App- oder Serverproblems Ihr ansonsten technisch völlig intaktes Fahrzeug nicht mehr nutzen können7, ist das Produkt mitsamt Produktdesign unausgereift und hat nichts mit den Ideen von Dezentralisierung, einem “autonomen Fahren” oder “automobiler Freiheit” gemeinsam.

Inkompatible Produktlebenszyklen

Wir sind mittendrin in einer Digitalisierung, die oftmals nichts mit der Technik zu tun hat. Vor unseren Augen ändern sich vielmehr die Geschäftsgrundlagen. Anstelle langlebiger und reparierbarer Güter entstehen messbar schlechtere mit fragwürdigen Zusatzleistungen und teils verkehrten Grundfunktionen.

Ein heutiges Windows “Betriebssystem” hat sich längst zu einer Werbe-, Produkt- und Zugangsplattform inklusive Reichweitenmessung gegen seine Anwender gewendet. Es ähnelt mit seinen bunten Startmenü-Kacheln voller Werbung und Product-Placements mehr der AOL-Desktop Zugangssoftware aus den 90ern. Moderne Betriebssysteme, die Ihren Anwendern ein Maximum an verfügbaren Ressourcen und Kontrolle bieten, sehen anders aus und sind by the way quelloffen. Die Beispiele lassen sich auf Hardware, Autos, Industrieanlagen, Haushaltsgeräte und viele andere Güter und Branchen übertragen, die sich an den kaputten Konzepten einer IT-Branche orientieren und unreflektiert übernehmen.

Ich bin zynisch und behaupte, dass die smarten Versprechen von Kostenvorteilen oder Effizienzsteigerungen in erster Näherung mit verkürzten Produktlebenszyklen erkauft werden und in zweiter Näherung Risiken aus Abhängigkeiten und technische Schulden8 unerwähnt lassen.

Nachhaltigkeit geht anders. Digitalisierung auch.
Operational Excellence erst Recht.

In diesem Sinne,
Tomas Jakobs

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