15. Januar 2022, 12:04
Lesezeit: ca. 6 Min

Linux Smartphone Projekt - Teil V

Positionsbestimmung im Januar 2022

Etwas mehr als ein Jahr sind vergangen seit meinem Unboxing des Pinephones im November 2020.1 Das letzte Update hier im Blog gab’s im Mai 2021.2 Zeit für eine Positionsbestimmung: Wie schlägt sich das Pinephone? Ist es bereit für den Alltagseinsatz?

Es funktioniert

In den vergangenen Monaten habe ich das Pinephone sowohl beruflich als auch privat mitgeführt, das iPhone mutig daheim lassend. Die große Enttäuschung blieb aus. Alle Grundfunktionen eines Telefons funktionierten inklusive meiner Zusatzwünsche VPN, Zugriff auf Nextcloud-Kontakte, Termine und Emails. Das mittlerweile in einer akzeptablen Geschwindigkeit, was zu Beginn dieser Reise nicht der Fall war.

Am Ende des Tages kommt trotzdem keine Begeisterung auf. Zu viele Kompromisse und Einschränkungen müssen zu meinem Bedauern hingenommen werden.

Das Pinephone ist keine heiße Affäre, kein attraktiver Feger mit der man sich ins kurzweilige, intensive Abenteuer stürzen will. Es gleicht mehr der “guten Freundin”, die unscheinbar und unerregt einfach da ist, oft ungeschminkt und manchmal unbequem bis lästig, gnadenlos ehrlich und Dinge sagt und macht, die man nicht will.

Kompromisse und Einschränkungen

Einer dieser Kompromisse ist beispielsweise die Notwendigkeit, längere oder wichtige Gespräche besser über das BT Headset zu führen. Die eingebaute Kamera ist kein Vergleich zu den Kameras anderer Geräte. Für die meisten Snapshots von diversen Fehlermeldungen oder Patchpanels reicht’s. Manchmal wünsche ich mir aber a) eine bessere Kamera mit weniger Rauschen und besserer Lichtempfindlichkeit und b) den vollautomatischen Sync der aufgenommenen Bilder mit meiner Nextcloud.

Den Verlust meines ebenfalls mit meiner Nextcloud (via Ampache/Subsonic) gesyncten Musik- und Podcastplayers kann ich noch hinnehmen. Dass der Deep-Sleep Mode des Pinephones keinen Wecker oder Alarm mehr durchlässt, geht jedoch gar nicht. Ganz besonders nervig: Erwacht das Telefon durch ein “in die Hand Nehmen” aus seinem Tiefschlaf und zeigt mir die Anmeldemaske an, brüllen mich die ganzen verpassten Erinnerungen und Termine an und zwingen mich zur raschen Anmeldung, damit ich diese muten kann. Das hat schon den einen oder anderen „awkward“ Augenblick und Schmunzeln meiner Mitmenschen erzeugt.

Das alles klingt wie die Klagen eines verwöhnten, weissen, alten Mannes. Zu bedenken bleibt bei den aufgezählten Kompromissen und Einschränkungen, dass es sich bei Debian um ein Open-Source Software Community-Projekt handelt, das von vielen Menschen ehrenamtlich und gemeinschaftlich getragen wird. Tweaking und Hacking ist by Design.

Tweaks und Hacks

Experimente mit anderen Systemen gab es keine mehr. Ich habe mich auf Debian als System mit Phosh als UI eingeschossen und lebe zufrieden “on the Edge” mit Bookworm/Sid. Mit dem Release von Bullseye im Herbst war das Entwicklungsteam gezwungen, ein relativ unfertiges Produkt zu releasen. Das Ziel ist es, erst mit Bookworm ein in gewohnter Debian-Qualität stabiles System zu veröffentlichen.3

Ich kann jedem den Wechsel der APT-Sourcen auf Bookworm nahelegen und praktiziere es auch auf meinem Desk- und Laptop und teilweise sogar auf ausgewählten Servern, da Bullseye IMHO eine Menge breaking und altes Zeugs in seinen Standard-Repos für andere Software mitbringt. Angefangen von einem kaputten openVPN, über xrdp bis hin zu mitgeschleiften aber unbetreuten Paketen. Zumindest im Falle von Chromium ist das Problem endlich mit dem Rausschmiß gelöst4. Wer weiß, vielleicht gibt’s demnächst wieder ein Iceweasel bei dem Weg, den Mozilla die letzten Jahre gegangen ist, aber das ist eine andere Geschichte.

Es bleibt festzuhalten, ein flüssiges Benutzen des Pinephones ist nur mit Tweaks und Hacks zu erreichen und ein guter Startpunkt sind die Wikiseiten des Mobian-Projekts.5

Verglichen mit dem Stand vor einem Jahr ist eine positive Entwicklungskurve zu erkennen, wo immer mehr dieser Tweaks und Hacks im Mainline-System landen. Macht es das Pinephone stellvertretend für ein Linux-Smartphone irgendwann Consumer- und Massenmarktauglich?

Das wirft die Frage auf, ob generell ein massenmarkttaugliches Gerät ein erstrebenswertes Ziel ist. Anwender üblicher Massenware müssen immer die eine oder andere Kröte zum eigenen Nachteil schlucken, die für andere wichtiger sind.

Ein Linux-Smartphone wird immer ein Nischenprodukt qua Definiton bleiben. Jeder, der Linux im Allgemeinen nutzt möchte im Grunde ein höchst individuell angepassbares und in die eigene Infrastruktur integriertes Gerät haben.

Wie auch immer, solange alles frei im Sinne der vier GNU-Freiheiten6 bleibt, ist mir alles Recht.

Tastatur-Case und Pinephone-Pro

Was die Akkulaufzeit betrifft so reicht diese an ruhigen Tagen. Längere Telefongespräche und Taschenlampen-Einsätze hinter dunklen Server- und Industrieschränken zwingt schneller wieder zurück zum USB3-Ladekabel mit “Juice”. Das neue Case mit Keyboard und Akkupack7 ist hier eine sinnvolle Verbesserung.

Es macht ein Pinephone zu einem Psion oder Nokia Communicator aus den frühen 2000er Jahren. Das ist keinesfalls böse gemeint sondern deckt sich erstaunlich gut mit meinem Usecase.

Sofort bei Verfügbarkeit habe ich es Anfang Januar 2022 gekauft und würde hier gerne ein Bild gezeigt haben. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieser Zeilen sagt das Tracking, dass das Gehäuse noch im Zoll feststeckt, Ankunft ungewiß.

Greife ich zum neuen Pinephone-Pro8 mit besserer CPU, mehr Speicher und dem Vernehmen nach einer besser abgestimmter Hardware? Zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht, schon gar nicht mit dem ersten Batch. Vielleicht demnächst, wenn es eine Debian/Mobian Edition gibt. Lauffähig wäre es jetzt schon, die Anpassungen vom Original Pinephone sollen erstaunlich gering sein, ein Image binnen weniger Stunden fertiggestellt.9

Persönliches Fazit

Bleibt die Frage, ob ich das Pinephone aus dem Stand weiterempfehlen kann. Oder anders formuliert, könnte ich es der Schwiegermutter ohne Aussicht auf unzählige Support-Stunden in die Hand geben?

Nein. Das Pinephone adressiert Nerds, die es erst an ihre Anforderungen anpassen müssen und das auch können sollten. Endanwender lassen besser die Finger davon. Das wird so von PINE kommuniziert und diese Hinweise sollten ernst genommen werden. Großes Lob, dass PINE trotzdem Produkte shippt und so einer kleinen aber wachsende Community Auftrieb gibt.

“Above Standard”

Was spricht für das Pinephone im Besonderen und ein freies Linux-Telefon im Allgemeinen? Es ist die Möglichkeit zur Kontrolle. Alle Bilder, Gespräche, Chats, Kontakte, Dokumente, Lese- und Hörgewohnheiten zusammen mit Lokalisierung und Datum-Zeitstempel beschreiben nicht nur das digitale Leben sondern die komplette Persönlichkeit mit Auswirkung auf das reale Leben.

Niemand weiß, welche Texte ich gerade lese, an welchem Projekt ich arbeite, ob und welches Lied und Grundstimmung ich dabei höre oder mit welchen Menschen ich wie über was kommuniziere.

Das nennt man Privatsphäre und im beruflichen Kontext Betriebsgeheimnis. Das ist der Bereich, wo ein Pinephone mit Abstand “above standard” zu den handelsüblichen Android und iOS “Assistenz-Wanzen” operiert. Das ist essentiell für alle Geheimnisträger und Dienstleister mit Zugang zu den wichtigsten Daten von Unternehmen.

Die typischen Verteilungskämpfe10 von BigTech-Unternehmen erzeugen bei mir nur ein müdes Gähnen. Wenn die Gesamtsituation im “Neuland” nicht so zum Schreien wäre und ich leider den Eindruck gewinne, dass immer mehr Menschen an den benötigten Kompetenzen im Umgang mit der Technik in einer datengetriebenen Überwachungs- und Aufmerksamkeitsökonomie scheitern.

Nur noch ein Schwung

Das Pinephone hat nach einem Jahr eine bemerkenswerte Reise gemacht und ist in meinem Alltag angekommen. Es fehlt noch ein kleines Stückchen, um meine Bequemlichkeit und mein betagtes iPhone endgültig in die ewigen Jagdgründe zu verbannen.

Vermutlich fehlt zum wortwörtlichen letzten Schwung von der Tischkante eine komplexe Kombination aus Unaufmerksamkeit, Gravitation, Fallhöhe und Bodenbeschaffenheit.

Noch ein Hinweis: Diese fünfteilige Blog-Serie gibt es auch “am Stück” auf 37 Seiten als PDF-Download.11

In diesem Sinne,
Euer Tomas Jakobs

Änderungsverzeichnis

Update vom 17.11.2020

Ersten Teil fertiggestellt.

Update vom 19.11.2020

Zweiten Teil fertiggestellt.

Update vom 24.11.2020

Dritten Teil fertiggestellt.

Update vom 27.04.2021

Vorbereitungen und Anpassungen an pandoc zum automatischen Erstellen von PDFs. Kleinere Textkorrekturen und Anpassungen der Überschriften. Hinzufügen eines Änderungsverzeichnisses.

Update vom 04.05.2021

Vierten Teil fertiggestellt.

Update vom 15.01.2022

Bildunterschriften im ersten Teil hinzugefügt. Fünften (und vorerst) letzten Teil fertiggestellt. Neue, zusammenfassende PDF mit pandoc erzeugt.

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