2. Februar 2023, 20:00
Lesezeit: ca. 4 Min

How Platforms Die

Wer hätte vor einem halben Jahr gedacht, dass Twitter so schnell und so deutlich stirbt? Meine Wortwahl ist nicht übertrieben. Wir sehen den Tod einer Plattform. Nicht, dass ich jemals ein Konto bei diesem sogenannten sozialen Medium gehabt hätte. Ich nutze dessen offene API mit der eigenen Nitter-Instanz1, wie vor zwei Jahren hier als Blogbeitrag vorgestellt2.

Frei von Werbung, dem Sammeln von Verhaltensdaten, einem User-Interface voller Ablenkungen, Dark Patterns und 3rd-Party-Content lese ich Tweets von interessanten Menschen als RSS-Feed zusammen mit allen anderen News in meinen persönlichen Nextcloud-News-Reader.

Damit ist jetzt Schluß. Der neue Besitzer von Twitter zerstört das, was diesen Dienst groß gemacht hat.3 Wer die Twitter-API ab 9. Februar 2023 weiter nutzen möchte, muss zahlen. Die Not scheint größer als der Verstand zu sein. Und es bleibt zu zweifeln, dass die oder der eine Entscheider sich dessen bewusst ist, was er da anrichtet. Bei der lachhaften Vorlaufzeit von nur einer Woche, wird es spannend zu beobachten, welche Websites, Apps und Dienste plötzlich nicht mehr richtig funktionieren werden.

Die Twitter-API wird nicht nur von meiner unbedeutenden Nitter-Instanz sondern von zahlreichen anderen Diensten und Apps genutzt. Medien-Websites greifen auf zitierte Tweets genauso zu wie unzählige Plugins in Webbaukästen und Shops mit “Login mit Twitter” Funktionen. Marketing-Abteilungen von Unternehmen posten Ihre Beiträge mit Drittanwendungen cross-medial auf mehrere Plattformen.

Auch wenn so manche erratische Entscheidung der jüngsten Vergangenheit schnell wieder zurückgenommen wurde4, eines wird mir deutlich: Es ist an der Zeit, die letzte Verbindung zu kappen. Aus drei Gründen:

  • Seit etwas mehr als einem halben Jahr fühle ich mich auf Mastodon pudelwohl5 und beobachte, dass fast alle von mir mit einem Nitter-RSS-Feed bedachten Institutionen und Personen ihren Weg in das Fediverse gefunden haben.

  • Auf Twitter sammelt sich immer mehr der “Bodensatz” des Internets. Verschwörungstheoretiker, Nazis6, Rassisten und einfach nur ätzende Menschen wie beispielsweise Trump7 erhalten Ihre Accounts und Reichweite zurück. Es winken mehr Werbeumsätze. Zugleich wird allgemein der in Twitter abgesonderte Bullshit immer weniger kontrolliert. Zu teuer da aufwändig und personalintensiv.

  • Meine Nitter-Instanz wird in den letzten Wochen zunehmend Ziel von False-Positive Abuse-Meldungen. Es ist offensichtlich, dass der personelle Kahlschlag8 bei Twitter zu einem auch für mich spürbaren Anstieg von Malware und Ransomware führt. Diese finden über Twitter-Tweets zunehmend Ihren Weg auf die Rechner von Betroffenen.

Die letzte Abuse-Meldung erfolgte vor einigen Tagen und kam aus Argentinien. Sie brachte mir neben 10 Minuten Server-Downtime, Mailwechsel mit meinem ISP und einem Schlangenöl-Anbieter sowie den Aufenthalt auf einer Blockliste für ca. 2 Stunden. Wie sowas aussieht, zeigen die beiden nachfolgenden Screenshots.

Malware von meinem Server? Eine false-positive Abuse Meldung

Es dauerte ca. 2h bis meine IP von einer Blockliste verschwand

Wie gut, dass meine Mail- und Reverse-VPN Server mit weiteren Diensten auf anderen IP-Adressen liegen. Es hat seine Vorteile, wichtige Funktionen sauber voneinander zu trennen.

Wer sich auf der sterbenden Plattform Twitter noch engagiert ist gut beraten, rechtzeitig den Absprung zu wagen. Belanglose Tweets erzeugen selten Umsätze, am wenigsten hinter einer Paywall. Im Dunstkreis von Nazis, Rassisten und dem ekelerregenden Bodensatz des Netzes schädigen sie aber nachhaltig eine Marke, das eigene Unternehmen und alle damit verbundenen Menschen.

Elon Musk schert sich nicht um User, Werbekunden oder das von ihm gekaufte Unternehmen. Es geht um schnelles Geld zur Reduzierung seiner persönlichen Ausgaben und Verbindlichkeiten. Auf Biegen und Brechen. Das Mantra des “Machers”, ich denke an seine Erfolge mit Tesla oder SpaceX, hat er für mich lange zuvor verloren. Menschen wie Musk sind gefährlich - sie reißen mit Ihrem eigenen Hintern meist das ein, was sie mühsam erschaffen haben.

Auf der Suche nach einem Begriff für diesen Niedergang bin ich bei Cory Doctorow9 hängen geblieben. Er prägte den Begriff der “Scheissewerdung” oder “Enshittification” von Plattformen10.

Here is how platforms die: First, they are good to their users; then they abuse their users to make things better for their business customers; finally, they abuse those business customers to claw back all the value for themselves. Then, they die. (…) this is the enshittification lifecycle.

In zehn Jahren wird Twitter zusammen mit den einstigen Größen wie Compuserve, Lycos, Yahoo oder AltaVista genannt. Und die Menschen werden sich fragen, wie ein reicher Schnösel so schnell und so brutal ein über Jahrzehnte gewachsenes Ökosystem zerstören konnte.

In diesem Sinne,
eine angenehme twitterfreie Zeit,
Euer Tomas Jakobs

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