Nervt das ständige Nudging von Windows?1 Die penetrante Werbung für Online-Dienste und Abos? Die Bloatware,2 die ohne Zutun installiert wird? Das neue Recall oder der überall mit Gewalt “angeflanschte” AI-Copilot, laut Salesforce-CEO Mark Benioff ohne einen Mehrwert?3 Nicht zu vergessen die monatliche Angst vor’m Patchday,4 mit immer wieder neuen Problemen, die aktuell sogar Microsoft zur Aussetzung der Updates zwingen?5
Selbst die eher Microsoft Gesinnten aus Hannover legen den Umstieg auf einen Mac nahe.6 Doch ist das die Lösung? Ein Wechsel von einem proprietären System zum nächsten, ohne das eigentliche Problem an der Wurzel zu packen?
„Been there, don’t do it!“, möchte ich an dieser Stelle rufen. Meine Gedanken und persönlichen Erfahrungen in diesem Longread. Wie immer: Your mileage may vary und kein Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit. Viel Spaß beim Lesen!
Regression proprietärer Software
Warum wird einem Software fremd? Eine Software, über viele Jahre genutzt, die man kennt und vertraut ist? Bei mir war es das Jahr 2007, als ich beschloss, Windows von meinen geschäftlich genutzten Geräten zu verbannen. Damals und lange Zeit später glaubte ich, der Auslöser sei die Einführung des „zweitschlechtesten Windows aller Zeiten“, Windows Vista.7 Oder die neue Ribbon-Bar8, mit der ich bis heute nicht warm wurde. Es waren die letzten Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten. Doch bis zum Rand mit Wasser gefüllt war das Fass bereits vorher.
2002 stellte Microsoft sein .NET Framework9 vor und änderte in den nachfolgenden Jahren immer wieder die APIs. Das zwang mich, bereits fertige Projekte und meine über mehrere Projekte genutzten Objektklassen immer wieder neu anzupassen. Arbeit, die einem niemand bezahlte. Hinzu kamen die Kosten für die MSDN-Mitgliedschaft10 und MCSD-Zertifizierung11 inklusive der überteuerten Kursunterlagen und Bücher aus dem Microsoft Press Verlag.12 Im Grunde waren es die vermissten Handbücher, die keine 10 Jahre zuvor noch den Produkten beilagen. Den MCSD konnte ich mir im Grunde schenken. Es generierte weder Erkenntnisgewinn, noch Aufträge oder zusätzliche Einnahmen. Bei jedem kostenpflichtigen Update des Visual Studio .NET13 in 2002, 2003 oder 2005 schaute ich rüber zu der kostenlosen Open-Source Software MonoDevelop14 und ärgerte mich. Ein unbestimmtes Gefühl sagte mir, ich werde abgezockt.
Letztlich ging es um verlorenes Vertrauen und der mangelnden Konfidenz. Es erschien, dass Microsoft wenig Interesse an erstklassiger Software und einer kontinuierlicher Verbesserung hatte. Natürlich fielen ab und zu auch gute Produkte aus Redmond. Spontan fällt mir Works 1.01 für DOS15 ein, das mit seiner modernen TUI gegenüber einem Word 5.0 wie von einem anderen Planeten erschien. Oder das erste Visual Basic for DOS16 mit seinem Dialog-Editor. Ein Solitär17 oder Flugsimulator18 reihen sich ebenfalls in diese Liste ein.
Doch irgendwann setzt bei diesen Programmen eine wahrnehmbare Regression ein. Das ist der Moment, in dem die “Paperclip-Maximierer”19 das Ruder übernehmen. Ein Begriff, von Bostrom20 und Stross21 inspiriert, der beschreibt, wie Unternehmen als „Slow-AI“22 agieren und ein bewährtes, ausgereiftes Produkt von innen heraus durch Up-23 und Cross-Selling24 “Innovationen” zerstören. Die Bedürfnisse und Wünsche der Kunden sind der eigenen Gewinnmaximierung bestenfalls nachgeordnet.
Warum sich Mühe geben, wenn jemand bereits “an der Angel” im Vendor Lock-In25 steckt? Eine neue Funktion in’s Menü eingebaut, und schon steht das nächste kostenpflichtige Update im Regal oder hinter dem Call-to-Action Kaufen-Button. Sollten einem die Ideen für sinnvolle (oder sinnfreie) Funktionen ausgehen, wird kurzerhand am Design geschraubt. Häufig anzutreffen sind “Dark Pattern”26 in der Benutzerführung und ein Verschieben von Basis-Funktionen in teurere „Pro“, „Enterprise“ oder „Ultimate“ Versionen einer Software. Das klappt auch wunderbar mit den heutigen Abo-Geschäftsmodellen.
Mich widern solche Mechanismen bei Softwareherstellern und Anbietern von Diensten an. Ein Instrument zum Arbeiten und Problemlösen degeneriert zu einem Verkaufsvehikel und wirft in diesem Zusammenhang meist neue Probleme auf, die es zuvor nicht gab.
Verspieltes Vertrauen
Anwendern ohne tiefergehende technische Kenntnisse bleibt im Umgang mit Software nur eines: Vertrauen. Die Wikipedia definiert Vertrauen folgendermaßen:27
Vertrauen auf eine andere Person beinhaltet Überzeugungen über ihre Redlichkeit und ihre zukünftigen Handlungsweisen: Man erwartet, dass diese Person einem hilfreich sein oder jedenfalls nicht schaden werde.
Vertrauen basiert auf einer interpersonalen Beziehung, die durch Kommunikation, gemeinsame Ziele, Werte oder Erfahrungen entsteht und gestärkt wird. Es ist ein gegenseitiger Prozess, der nicht erzwungen werden kann. Bereits vor fast 20 Jahren wurde das Problem des Vertrauens in der Tech-Industrie im Kontext des “Trusted Computing”28 thematisiert und auf den Punkt gebracht.29 Das kurze, aber prägnante Video lohnt sich anzusehen:
Video im AV1-Format. Wenn Sie es nicht sehen, nutzen Sie einen Browser/App (noch) ohne AV1-Unterstützung.
Wie kann Vertrauen entstehen, wenn auf der anderen Seite die “Paperclip-Maximierer” übernommen haben und Kunden über den Tisch ziehen? Wenn Akteuere einer ganzen Branche beginnen nicht mehr redlich wie ehrbare Kaufleute30 am Marktgeschehen teilzunehmen?
If they do not trust you, why you should trust them?
Stufen der Enshittification
IT-Unternehmen neigen dazu, geschlossene Systeme um ihre Assets herum aufzubauen - sogenannte “walled gardens”.31 Ziel ist es, vollständige Kontrolle über die gesamte Wertschöpfungskette zu erlangen. Diese Strategie zielt auf eine “End-to-End Customer Experience” ab, wie sie Walter Isaacson32 2011 in seiner Biografie über Steve Jobs33 beschrieben hat. Apple ist in dieser Disziplin zweifellos führend. Das perfekt abgestimmte Ökosystem aus Geräten, Software und Diensten hat das Unternehmen innerhalb eines Jahrzehnts von der drohenden Pleite der späten 1990er34 an die Spitze der Tech-Industrie katapultiert.35
Ich war lange ein zufriedener Nutzer von Apple-Produkten. Soviel zum eingangs erwähnten “been there”. Apple ermöglichte mir Resultate, die vorher unter Windows und mit Windows Software kaum denkbar waren. Noch heute greife ich auf mein mittlerweile zehn Jahre altes MacBook Pro Retina36 zurück, wenn ich Videos in Final Cut Pro bearbeiten oder vertonen möchte.
Doch die Konfidenz in Apple hat über die Jahre Risse bekommen. So fand ich zum Beispiel keinen würdigen Nachfolger für mein MacBook. Was bringen mir die eingesparten Gramm und Millimeter eines ultra-dünnen Gerätes, wenn ich gleichzeitig einen Zoo an Adaptern für fehlende Anschlüsse herumschleppen muss? Der minimale Leistungszuwachs der Intel-Prozessoren stand in keinem Verhältnis mehr zum Neupreis. Das Geschachere mit minderwertigen Butterfly-Tastaturen37 sowie der Quatsch mit der Touch-Bar38 brachten das Fass zum Überlaufen. Zum “Daily-Driver” wurde ein GNU/Linux Debian mit Gnome auf einem gebrauchten Thinkpad für 250.- EUR anstatt 4.000,- EUR für neue Mac-Hardware.
Ich sehe keinen Unterschied zwischen Apple und Microsoft. Beide Unternehmen folgen der gleichen Arithmetik, wenngleich auf unterschiedlichen Ebenen der “Enshittification”.39 Das ist ein Begriff von Cory Doctorow,40 entstanden bei der Beschreibung des schleichenden Verfalls von Internet-Plattformen:
Here is how platforms die: First, they are good to their users; then they abuse their users to make things better for their business customers; finally, they abuse those business customers to claw back all the value for themselves. Then, they die. I call this enshittification, and it is a seemingly inevitable consequence arising from the combination of the ease of changing how a platform allocates value, combined with the nature of a “two-sided market”, where a platform sits between buyers and sellers, hold each hostage to the other, raking off an ever-larger share of the value that passes between them.
Seine Beobachtungen sind keineswegs neu. Bereits in den 1970er Jahren untersuchte George Akerlof41 sogenannte Abwärtsspiralen und dysfunktionale Märkte in seinem Aufsatz “The Market for Lemons”.42 Für diese Arbeit erhielt er 2001 zusammen mit Michael Spence43 und Joseph Stiglitz44 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.
Die IT-Branche weist mit Ihrer ausgeprägten Informationsasymmetrie45 viele Merkmale von dysfunktionalen Märkten auf. In diesem Umfeld haben redlich arbeitende Firmen kaum noch Chancen. Sie operieren besser unterhalb des Radars denn sobald sie größer werden, oder mit einer Innovation ins Rampenlicht treten, stehen sie im Fadenkreuz der Großen und werden entweder aus dem Weg geklagt oder aufgekauft.
Freie Software als Lösung
Die Ursache für Informationsasymmetrie und fehlender Konfidenz ist schnell gefunden. Sie liegt im proprietären Quellcode und geheim gehaltenen Algorithmen. Hier hilft nur Evidenz durch offen zugänglichen Code und freie Lizenzen. Der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Forschung zeigt, quelloffene Software übertrifft proprietäre Software in den Bereichen Kosten, Transparenz und Sicherheit deutlich.46
Der Entwicklungsprozess und die Qualität von Open-Source-Software sind transparent und unabhängig überprüfbar. Zusammen mit professionellem Support erhalten Anwender das bestmögliche Ergebnis an Sicherheit und vermeiden die Abhängigkeit von einzelnen Anbietern.
Die bekannteste freie Lizenz dürfte die GNU General Public Licence (GPL)47 mit Ihren vier Freiheiten sein:48
- Die Freiheit, ein Programm auszuführen wie man möchte, für jeden Zweck.
- Die Freiheit, die Funktionsweise eines Programms zu untersuchen und eigenen Bedürfnissen anzupassen. Der Zugang zum Quellcode ist dafür Voraussetzung.
- Die Freiheit, ein Programm weiter zu geben und damit anderen zu helfen.
- Die Freiheit, ein Programm zu verbessern und diese Verbesserungen der Öffentlichkeit freizugeben, damit die gesamte Gesellschaft davon profitiert. Der Zugang zum Quellcode ist dafür Voraussetzung.
Auch wenn nur wenige in der Lage sind, den Quellcode einer Software zu lesen, sind die damit verbundenen Freiheiten von grundlegender Bedeutung für alle Beteiligten. Unredliche Akteure können im Rahmen eines Peer-Reviews leichter entlarvt werden als das bei proprietären Lösungen möglich wäre. Das ermöglicht Korrekturen oder im Extremfall einen Fork.49 Aktuelles Beispiel für eine erfolgreiche Korrektur ist die Entdeckung der XZ-Schwachstelle.50 Bekanntes Beispiel für einen Fork ist die Abspaltung von Nextcloud von Owncloud.51
Zusammenfassung
Wer von Windows wechseln möchte, sollten nicht von Pontius zu Pilatus gehen. Nur freie und quelloffene Software bietet eine echte Alternative. Mit ihrer Transparenz, Überprüfbarkeit und Möglichkeit zur gemeinschaftlichen Weiterentwicklung schafft sie das notwendige Vertrauen, die proprietäre Software nie erreichen wird.
In diesem Sinne,
Tomas Jakobs
https://blog.jakobs.systems/micro/20230912-windows-bloatware/ ↩︎
https://blog.jakobs.systems/micro/20240814-digitale-zwillinge/ ↩︎
https://howtogeek.com/720504/the-6-worst-versions-of-windows-ranked/ ↩︎
https://en.wikipedia.org/wiki/Microsoft_Developer_Network ↩︎
https://en.wikipedia.org/wiki/Microsoft_Certified_Professional ↩︎
https://en.wikipedia.org/wiki/Instrumental_convergence#Paperclip_maximizer ↩︎
https://en.wikipedia.org/wiki/Apple_Inc.#1990%E2%80%931997:_Decline_and_restructuring ↩︎
https://macrumors.com/2024/03/15/apple-butterfly-keyboard-program-nearly-over/ ↩︎
https://en.wikipedia.org/wiki/Fork_(software_development) ↩︎