Bei einer AD-Umstellung letztes Jahr habe ich eine vermeintlich unscheinbare aber für ein Unternehmen immens wichtige Windows-Software vergessen. Es ist eine der wenigen Anwendungen, die seit Erscheinen im Jahr 1990 zuverlässig ohne Skandale ihren Dienst verrichtet. Und obwohl alt, wird diese noch heute nicht nur von der Geschäftsführung des besagten Unternehmens sondern auch von weiteren 35 Mio Anwendern jeden Monat genutzt.1
Die Rede ist von Solitär2. Bestandteil in jedem Windows seit Versionsnummer 3. Offiziell zum Erlernen der Mausbedienung hieß es damals. Kompletter Humbug - niemand musste jemals diese erlernen. Dunkel erinnere ich mich, wie ich bereits Ende der 80er in meinen Power-BASIC und Turbo-Pascal DOS-Anwendungen auf dem Schneider Euro-PC3 Mausunterstützung mit Interrupt 334 programmiert habe. Der wahre Grund, warum Solitär in Windows landete ist profaner und mit Ockham einfacher zu erklären: Weil man es konnte und der Praktikant5 noch Freude an der Sache hatte und es Microsoft kostenlos in den Schoß legte.6 Zudem brauchte man dringend Anwendungen, um den Konkurrenzprodukten wie Geoworks7, OS/28 oder das kostenlos in DR-DOS enthaltene GEM9 etwas entgegen halten zu können. Diese waren in vielen Aspekten richtungweisender und besser. Aus der Retrospektive betrachtet unbegreiflich, wie sich das damals bestenfalls drittklassige Produkt aus Redmond durchsetzen konnte. Die unlauteren Mittel kamen leider erst später Ende der 90er Jahre in den bekannten Antitrust-Verfahren zum Vorschein.10
Wie auch immer, Solitär ließ sich zu der Zeit in die gleiche Kategorie von Software einordnen, die als fertig und vollständig betrachtet werden kann. Es war klein, schlank und funktionierte. Ein Zustand der Perfektion, wenn nichts mehr weggenommen oder hinzugefügt werden muss. Es hätte im Software-Olymp ein zweites Qmail11 werden können.
Die Degeneration begann mit Windows Vista. Von einer alleinstehenden Anwendung rutschte Solitär zunächst in einen “Spiele-Explorer”12 mit dem Microsoft die eigenen Services pushen wollte. Ich bin mir sicher, niemand wurde gefragt oder wollte diesen Quatsch.
Heute ist es Bestandteil der Microsoft Solitaire Collection13 und wird als “kostenlos” beworben. Das stimmt natürlich nicht. Bezahlt wird mit einer gesonderten Zustimmung zur Datenerhebung und Weitergabe. Diese ist total und umfassend, dass in den aktuellen Microsoft Lizenzbedingungen eine Nutzung im gewerblichen Kontext auf Unternehmensrechnern untersagt wird14. Wissen die wenigsten und hindert Microsoft nicht davon, es zusammen mit XBox- und weiteren Store-Diensten in jedes Enterprise Windows zu packen. Von der Unbeschwertheit des Originals ist nichts mehr übrig. Das heutige Solitär ist einfach nur kaputt und steht stellvertretend für die Geschäfts- und Produktpolitik Microsofts und der ganzen IT Branche.
Zurück zur eingangs erwähnten AD-Umstellung. Irgendwie musste ich das Solitär der Geschäftsführung wieder zur Verfügung stellen. Warum nicht das Original von damals auf einen aktuellen Rechner von heute packen? In meinem Fall ein zentraler Terminalserver. Die Wiederherstellung der Perfektion - eine edle und gute Tat.
Um rechtlich auf einem besseren Fundament als die aktuellen Microsoft Lizenzbedingungen zu stehen habe ich das Solitär von einer lizenzierten und im Besitz des Unternehmens befindlichen Windows 2000 Original-CD genommen. Mit Blick in die damalige EULA ist die Installation auf genau einem physischen Rechner erlaubt. Keine Rede von Terminalservices oder gar von virtualisierten Maschinen. Ein jüngeres Windows XP geht bestimmt genauso wie ein älteres Windows NT4. Vor einem Download aus dubiosen Quellen aus dem Netz rate ich ab.
Die sol.exe findet sich im /i386 Ordner zusammen mit der benötigten cards.dll Library. Beide liegen komprimiert im CAB-Format15 vor, was bei Windows 2000 an dem Unterstrich am letzten Buchstaben der Dateierweiterung deutlich wurde. Zum Extrahieren reicht unter Gnome ein Mausklick. In Windows muss wahlweise die Kommandozeile mit dem Befehl expand bemüht oder 7-Zip16 als Anwendung extra installiert werden.
Die einzige Abhängigkeit cards.dll wird zwingend benötigt und sollte im gleichen Verzeichnis neben der sol.exe Datei liegen. In dieser befinden sich die Karten-Symbole und verschiedenen Hintergrund-Muster. Wer mit einem Ressourcen-Editor umzugehen weiß, kann hier die Muster der Spielkarten hacken.
Auf einem aktuellen System ist ein eigener Ordner unterhalb “Programme (x86)” der richtige Aufbewahrungsort. Eine GPO erstellt am Desktop und Startmenü die Verknüpfungen für die jeweils zugedachte Benutzergruppe, die gleichzeitig exklusiven Lesezugriff auf den Ordner erhält. Vollzugriff bleibt nur dem System und der Gruppe der Administratoren vorbehalten.
Und schon leuchteten wieder die Augen der Geschäftsführung des Kunden. Und das alles verbunden mit einem guten Gefühl, keine Datenpunkte bei Dritten zu hinterlassen.
In diesem Sinne,
Tomas Jakobs
https://medium.com/@mokshacb/a-solitaire-y-success-in-gaming-519ce6163833/ ↩︎
https://blog.jakobs.systems/blog/guacomole-terminalserver/ ↩︎
https://de.wikipedia.org/wiki/Klondike_(Solitaire)#Microsoft_Solitaire ↩︎
🚫 https://www.theverge.com/2017/4/13/15285780/windows-solitaire-original-bored-intern/ ↩︎
https://en.wikipedia.org/wiki/GEOS_(16-bit_operating_system) ↩︎
https://de.wikipedia.org/wiki/Graphics_Environment_Manager ↩︎
https://en.wikipedia.org/wiki/United_States_v._Microsoft_Corp. ↩︎
https://de.wikipedia.org/wiki/Games_for_Windows#Windows_Games_Explorer/ ↩︎
https://www.xbox.com/de-de/games/store/microsoft-solitaire-collection/9wzdncrfhwd2/ ↩︎
https://blog.jakobs.systems/blog/20210529-windows-gewerblich/ ↩︎